Was macht man an einem langen Novemberabend im Lockdown? Schreiben! Unsere Autorin berichtet von unserem Online-Selbsthilfetreffen im November 2020, in dem wir uns auf eine kreative Schreibreise begeben haben. Der Beitrag ist der erste in unserer neuen Reihe Kreativ durch die Krise. Unter diesem Motto veröffentlichen wir in Zukunft regelmäßig Beiträge, die davon berichten, wie man mit Kreativität und künstlerischem Ausdruck Krisensituationen besser bewältigen kann.
Wenn ich ein Tier wäre
Es ist Donnerstagabend, der letzte im November. Der neblig graue Tag senkt langsam sein Haupt, vergeht, wie jeder Tag in diesem Monat des neuerlichen Lockdowns, in diesem Jahr der ewigen Quarantäne, in dem für alle alles anders ist. Mir ist das vertraut, dieses anders. Ich habe es schon erlebt. Ich weiß nur zu gut, wie es sich anfühlt, wenn von heute auf morgen das Leben auf dem Kopf steht und nichts mehr so ist, wie es einmal war. Ich weiß auch, wie man nach der Zeit des ungläubigen Kopfschüttelns und Nicht-Wahrhaben-Wollens gezwungen ist, das unabweislich Unerwünschte anzunehmen und irgendwie ins Leben zu integrieren. Ich kenne die Situation, in der es keine komfortable Lösung gibt, sondern nur einen Weg, den man unter größten Mühen und unter Verzeichnung herber Verluste gehen muss, am Ende nur noch getragen von der Hoffnung, dass es sich irgendwie auszahlen möge und man mit nichts Geringerem als seinem Leben davonkommt. Ich kenne dieses Leben im endlosen Lockdown, der nie zu enden scheint.
Die Einschränkungen aushalten
Ich bin eine 42 Jahre alte Cancer Survivorin, wie es neuerdings etwas heroisch heißt. Ich war jung und stand mitten im Leben, als mich meine Diagnosen gleich zweimal aus selbigem rissen. Ich weiß deshalb auch, wie es ist, schwer krank zu sein, wie es ist, um sein Leben zu kämpfen und wie es sich anfühlt, wieder gesünder, wenn auch nicht geheilt zu sein – weil Erkrankungen und Therapien Spuren hinterlassen haben, irreparable Schäden, die das Leben für immer verändern. Ich habe Respekt vor dieser Covid-Erkrankung. Ich schaue nicht nur auf die Zahl der Todesfälle, sondern auch auf die der schweren Verläufe. Ich will warnen und sagen: unterschätzt das nicht, mit Spätfolgen von Erkrankungen zu leben, wie dieser Fatigue-Erschöpfung, die Krebsbetroffene schon lange kennen und die nun seit Covid eine größere Aufmerksamkeit erlangt. Haltet sie irgendwie aus, diese schweren Einschränkungen, um Eure eigenen und die Leben Anderer nicht zu gefährden. Wenn ich es geschafft habe, schafft Ihr das doch auch.
Ich will nicht wieder krank sein. Ich hänge an meiner fragilen Gesundheit und schütze sie wie meinen Augapfel. Vielleicht wäre Covid nicht tödlich für mich, aber auf einen milden Verlauf setze ich angesichts der Bestrahlungsschäden auf meiner Lunge auch nicht. Ich will keine Verschlechterung riskieren und verstecke mich deshalb seit inzwischen neun Monaten diszipliniert in meinen eigenen vier Wänden. Ich halte das aus, weil ich die Alternative erlebt habe, weil ich weiß, wie es ist. Was mir dabei hilft, sind meine altbewährten Tugenden – Vernunft, Verzicht, Geduld und Kreativität – mit denen ich schon Chemotherapien, Bestrahlung und zig Operationen durchgestanden habe.
Schreibtherapiestunde mit der Pandemie-Online-Gang
Was mir auch hilft, sind meine Leidensgenossinnen und -genossen von Leben nach Krebs! e.V. Sie hocken genauso zu Hause wie ich. Sie wissen auch, wie es ist. Heute, an diesem Donnerstag treffen wir uns wieder. Nach den ersten holprigen Versuchen im März warte ich inzwischen routiniert vor meinem Bildschirm darauf, dass der Moderator mich „in den Meeting-Raum eintreten lässt“. Nach und nach erscheinen die vertrauten Gesichter als kachelförmig angeordnete Menschenausschnitte vor den inzwischen ebenfalls vertrauten heimischen Kulissen. Seit Beginn dieser Pandemie treffen wir uns regelmäßig hier. Nur einmal, im Sommer, haben wir uns persönlich gesehen. Alles andere besprechen wir im Chat oder eben per Zoom, wo wir inzwischen sogar gemeinsam Sport treiben. Nach Monaten des offenen Austauschs gibt es heute mal wieder eine thematische Runde. Ich habe zwei Schreib- und Kunsttherapeutinnen eingeladen, uns einen Schnupperkurs im kreativen Schreiben zu geben. Mich fasziniert schon länger, wie hilfreich kreativer Ausdruck in Krisensituationen und nach traumatischen Erlebnissen sein kann. Was regelt unser Kopf nicht alles, um Dinge durchzustehen, aber wenn es um die seelischen Verletzungen geht, sind seine rationalen Pflaster nicht ausreichend. Wenn unser Innerstes abgeklebt wird, werden wir nicht heilen. Dafür muss Luft an die Wunde.
Viele haben sich angemeldet. Ich freue mich darüber und bin gespannt, wie es sein wird, gemeinsam auf kreative Schreibreise zu gehen. Bis zur Pandemie haben wir uns einmal im Monat persönlich getroffen und uns – meist klassisch im Stuhlkreis sitzend – zu typischen Themen wie Umgang mit der Angst, Rückkehr in den Beruf oder Leben als Erwerbsminderungsrentner/in ausgetauscht. Wird sich meine Pandemie-Online-Gang nun auch auf so etwas, wie eine Schreibtherapiestunde einlassen?
Magische Portraits
Die Therapeutinnen starten mit einer Aufwärmübung, dem magischen Portrait. „Wenn ich ein Tier oder ein Baum wäre, wäre ich…“, lauten die zu vollendenden Sätze. Als die ersten Minen übers Papier fliegen, atme ich erleichtert auf. Sie machen mit, sie schreiben. Innerhalb kürzester Zeit entstehen die vielfältigsten Portraits. Wie auf einer kleinen Bühne präsentieren wir uns nacheinander unser Geschriebenes. Eine verschmuste, zuweilen kratzbürstige Katze stellt sich zuerst vor, dann ein Faultier, welches gemütlich schaukelnd in den Bäumen hängt. Sogar einen Oktopus mit unzähligen Armen haben wir in unserer Runde. Ohne Mühe verstehen wir in dieser Übung auch, wer wir als Baum sind: einer der verwilderten aus dem Darßer Urwald etwa oder eine, mit ihren flexiblen Ästen ins Wasser ragende, wunderschön ausladende Weide. Fast möchte man nach diesen Eindrücken jedem empfehlen, sich einmal so selbst zu portraitieren. Intuitiver mag man sein eigenes Wesen wohl kaum entdecken können.
Das Bild des Baumes begleitet uns auch in der nächsten Übung, in der wir uns etwas ernsthafter den „Baum unseres Lebens“ vergegenwärtigen sollen. Ganz im Sinne der ressourcenorientierten positiven Psychologie versuchen wir zu verstehen, was uns Kraft gibt, stark und stabil sein lässt und was uns hilft, uns zu entfalten. Wieder entstehen die unterschiedlichsten Lebensbäume, die wir uns gegenseitig vorstellen. Allen gemein ist die Erkenntnis, dass kein Lebensbaum ohne Nahrung, Natur und persönliche Beziehungen sowie Gemeinschaft auskommt. Für manche gibt es nach dieser Übung auch nachdenkliche Ergebnisse, die zur Selbstreflexion einladen.
„Talk to me, like lovers do!“
Hierzu fordert uns noch eine weitere Übung auf, die deutlich macht, was ein Perspektivwechsel bewirken kann. Die Therapeutinnen geben uns die Aufgabe, einen Liebesbrief an unsere eigenen Körper zu schreiben. „Talk to me, like lovers do!“, lautet das Motto, unter dem ausgerechnet wir unsere von Krankheit und Therapien gezeichneten Körper huldigen sollen. Nachdenklich setzen wir die Stifte an und beginnen erst zögerlich, dann immer leidenschaftlicher mit unseren Liebesschwüren. Im Ergebnis entstehen sehr berührende Texte, die wir uns in einer von Respekt und Mitgefühl getragenen Atmosphäre vorlesen. Vom Dank für das geduldige Ertragen der therapeutischen Eingriffe ist die Rede, von Entschuldigungen für so manche Zumutung und Unachtsamkeit in der Vergangenheit, von größter Anerkennung für das unermüdliche Weiterfunktionieren und von einer demütigen Dankbarkeit für die Freiheiten, welche sie uns noch immer schenken, trotz allem. Wie ein warmer Sommerregen prasseln die liebevollen Worte auf uns hernieder – für mich der Moment, in dem ich mal wieder wachgerüttelt werde, meinen Fokus immer auch dankbar auf das zu richten, was geht und nicht nur klagend auf all das, was nicht.
Die Abschlussübung lässt uns wieder Satzanfänge beenden.
„Kreatives Schreiben fühlt sich an wie…“, sollen wir sinnlich resümieren.
„…wie schweben“, weiß ich für mich sofort.
„Es sieht aus wie…“
„…eine bunte Blumenwiese“, assoziieren gleich mehrere von uns.
„Und es riecht…“
„…wie ein warmer Sommertag“, beende ich meinen letzten Satz.
Ich breite die Flügel aus und fliege.
Als die gemeinsame Reise an diesem Donnerstag zu Ende geht, verabschieden wir uns selig lächelnd und in die Kamera winkend voneinander. Nach und nach verschwinden die Kacheln wieder von meinem Bildschirm, lösen sich auf wie sagenhafte Erscheinungen, die es nie wirklich gab. „Wie lange noch?“, seufze ich in die Stille, in die nun die Einsamkeit zurückkehrt, sich von hinten anschleicht und in den Raum vorrobbt – bereit mich jederzeit zu packen und neblig zu umfangen, wie die Novemberdunkelheit ihre trüben Tage.
Vernunft. Verzicht. Geduld. Kreativität.
Ich atme tief ein und aus, und während ich meine Augen schließe, beginne ich zu träumen. In meinen Träumen bin ich ein Schmetterling. Entpuppt aus einer Raupe, entfaltet als buntes Wesen, welches leicht und frei durch die Lüfte schwebt, Ruhe findet auf wunderschönen, duftenden Blumen. Ich breite die Flügel aus und fliege.
Bis die Tage wieder heller werden.
Bis ich die Maske wieder abnehmen kann.
Bis wir uns endlich wiedersehen.
Unsere Autorin berichtet in ihrem Beitrag vom Online-Selbsthilfetreffen am 26. November 2020 bei Leben nach Krebs!, in dem Susanne Diehm und Dorothea Lüdke einen Schnupperkurs im gesundheitsfördernden kreativen Schreiben gegeben haben. Die beiden Schreib- und Kunsttherapeutinnen haben viel Erfahrung in der Begleitung von Krebspatient*innen. Susanne Diehm hat einen Master in Biografischem und Kreativem Schreiben und leitet seit 2017 eine Schreibgruppe für Krebsbetroffene und ihre Angehörigen an der Frauenklinik der Charité, die von Prof. Jalid Sehouli ins Leben gerufen wurde. Hierzu ist auch ein Begleitbuch „Mit Schreiben zu neuer Lebenskraft“ erschienen, das ebenfalls in Zusammenarbeit mit Prof. Sehouli entstanden ist. Eine Kostprobe mit Schreibanleitungen – kleinen „Schreibinaren“ – gibt es kostenfrei auf der Webseite der Deutschen Stiftung Eierstockkrebs. Die Stiftung unterstützt das bislang einzigartige Projekt, welches die Verantwortlichen im Rahmen einer Schreibtour an mehreren Unikliniken vorgestellt haben, um das „Berliner Konzept“ in die Welt zu tragen.